Über die Kunst des Alles-Fragen-Könnens

Columns, Kolumnen

Man muss nicht erst in den Urwald fahren und sich von Kannibalen verspeisen lassen, um ein Abenteuer zu erleben, man kann auch einfach den Jahresrundgang der nächstgelegenen Kunstakademie besuchen. Das habe ich am Samstag getan. Documenta en miniature in Münster.

In der Eingangshalle begrüßen uns kleine, auf dem Boden stehende, phallisch geformte Holz-Figuren, die wie Stempel aussehen und ein Staubsauger auf einem Hochflorteppich. In der Ecke rechts von uns sitzt ein ziemlich großer Typ (Mann? Frau? Wirklich schwer zu sagen) im Punk-Outfit, mit gefärbtem Haar, schwarzem Shirt, kurzer Hose, Springerstiefeln, starrt uns mit weit aufgerissenen, schwarz umrandeten Augen an und wickelt sich in zuckend hektischen Bewegungen ein dünnes schwarzes Kabel um die Zunge. “Krass”, denke ich, “Kritik an der Digitalisierung vermutlich.” Weil der Typ mich andauernd so dermaßen irre und herausfordernd anstarrt, blicke ich verstört wieder weg und wieder hin und wieder weg und wieder hin, und immer, wenn ich zu ihm blicke, fixiert er mich wie verrückt, guckt sehr wütend und umwickelt noch energischer seine Zunge. Spooky. Wir schlendern in den nächsten Raum. Der Typ verfolgt uns, setzt sich jetzt in die Ecke dieses Raumes, glotzt uns wieder mit irre aufgerissenen Augen an und wickelt erneut aggressiv an seiner Zunge herum. Wir fühlen uns bedrängt und huschen schnell weiter, die Treppen hinauf, an getöpferten “identity”-Sprüchen vorbei und an diversen mit Steinen gefüllten Suppenkellen, die überall auf dem Boden herum stehen und über die die Besucher allenthalben stolpern, um sie dann, peinlich berührt, wieder aufrichten zu müssen.

Schließlich stehen wir vor einem Raum, in dem nichts ist, außer einem Mädchen. “Kommen Sie herein. Aber nur einzeln.“ Ich lese vorher noch schnell das Schildchen an der Tür: “Karin Frings. Was willst du von mir wissen? Klasse Kinoshita” Eh ich mich versehe, ist die schwere Eisentür hinter mir ins Schloss gefallen und da stehe ich nun, alleine mit Frau Frings, in diesem großen, aufgeräumten Raum, der sonst als Fotostudio genutzt wird, in dem es still und einsam ist und nur die Lüftung die Halle in ein leise hallendes Brummen versetzt. Ich fühle mich wie in einem dystopischen Film. Isoliert. Eingesperrt. Surreal. Der Raum ist in zwei Farben eingeteilt, schwarz und weiß. Frau Frings steht auf der schwarzen Seite in der Mitte. Sie ist recht klein und zierlich. Fast wie ein Kind. Ich schätze sie auf Mitte Zwanzig. Sie trägt eine mittelblonde Pagenfrisur, Hornbrille, Maske, cremefarbendes, gesticktes Kleid, knielang, braune Birkenstock-Flipper. Ich positioniere mich instinktiv, symmetrisch im Raum, auf der Mitte der weißen Seite und wundere mich ein wenig später darüber.

Wie im Duell stehen wir uns gegenüber. Breitbeinig, entschlossen und doch schutzlos. Last woman standing. Fragen als Waffe. Ich kann sie jetzt ALLES fragen. Es hört und sieht uns niemand! Niemand auf der ganzen Welt. Es erfährt niemand, es sei denn, ich will das. „Das ist Teil des Kunstwerks“, sagt Frau Frings, „das entscheidet der Rezipient, wie das Kunstwerk weiter geht“. Was also will man wildfremde Menschen fragen, wenn man es plötzlich kann? Wenn man ihnen gewissermaßen offiziell in die Seele blicken darf. Wenn man das darf, was man sich auf der Straße manchmal denkt: „Was denken die anderen?“

Ich frage sie, wie sie zur Kunst gekommen sei. Sie sagt, sie wäre vorher Steuerfachangestellte gewesen und das war ihr zu langweilig. Ich frage sie, wovon sie träume, sie spricht von einem Konzert, von einem Künstler, den sie sehr verehrt (spanischer Name, leider vergessen), ich frage sie, ob sie Kinder haben wolle (unentschlossen) und wer ihre Vorbilder seien (keine, aber ihre Performance käme denen von Marina Abramovic schon sehr nahe). Dann bedanke ich mich und gehe wieder raus. Mein Mann blickt mich erwartungsvoll an: “Und? Was hast du gefragt?” Ich beschreibe es ihm, habe kurioser Weise einiges schon wieder vergessen, und merke, wie sich sein Gesicht enttäuscht verzieht: “Da spielt man jahrelang Therapy und du stellst so langweilige Fragen?” “Die war aber auch langweilig. Steuerfachangestellte!“, brummel ich entschuldigend. “Weißt du ja gar nicht, du hast ja nichts Spannendes gefragt!” Ich bemerke, dass ich wahnsinnig viel Scham habe, jemanden Fremden etwa nach seinen sexuellen Vorlieben oder nach seinen psychischen Abgründen zu fragen. Überhaupt tiefergehend zu fragen. “Es gab aber auch so gar kein richtiges Packende, das ich hätte anfassen können – und wollen”, schiebe ich nach.

Dabei bin ich sonst doch nicht so. Schambehaftet zum Beispiel. Vor ein paar Wochen, in einem Workshop für Frauen, sprach ich ziemlich unverfroren, frivol und deftig mit zwei fremden Frauen über alles mögliche an sexuellen Vorlieben und wir bogen uns vor Lachen. Das war ein anderes Setting, andere Frauen. War es? Wirklich? Verdammt! Die halbe Nacht denke ich über mein bescheuert langweiliges Interview nach und über mich. Ich habe Fragen gestellt wie in einem Bewerbungsgespräch. Was ist da los mit mir? Oder war es mein Gegenüber? Wo sind meine Grenzen und warum? “Ich fahr da morgen nochmal hin”, flüster ich zu meinem Mann, der schläfrig die Stirn runzelt: “wenn du meinst”.

Am nächsten Morgen warte ich vierzig Minuten vor der verschlossenen Ateliertür und sehe weiteren Menschen dabei zu, wie sie über die Suppenkellen stolpern und diese unter meinen Blicken verunsichert, verstohlen wieder zusammenbauen. Dann endlich öffnet sich die Tür und ein Ersthelfer kommt heraus geflitzt. Er blickt devot zu Boden. Seltsam. Ich frage vorsichtig, ob Frau Frings eine Pause brauche und die sichtlich aufgelöste Künstlerin sagt ja, das Gespräch sei ziemlich anstrengend gewesen. Dann stehen wir uns wieder gegenüber. Sie erklärt mir das Spiel, aber ich kenne es ja. Ist es ein Spiel? Vielleicht. Ich frage, wie es ihr geht. Sie antwortet, sie sei etwas mitgenommen, wegen des intensiven Gesprächs zuvor.

“Was war die krasseste Frage, die der Mann Ihnen gestellt hat?”

“Er fragte, ob er mich küssen dürfe.”

“Und durfte er?”

“Nein!”

„Ist er ihnen näher gekommen?“

„Ja.“

„Was haben sie gemacht?“

„Ich bin ruhig geblieben und habe um Abstand gebeten.“

“Hatten Sie schon mal Angst in diesem Raum? Ich meine, es hört und sieht sie hier niemand, es kann auch niemand von außen rein.”

“Nein. Ich habe ja die Schlüsselgewalt.”

(der Schlüssel liegt auf einem Tisch schräg hinter mir, da hat sie ihn beim Reinkommen hingelegt.)

(Ich würde sie gerne fragen, was passieren müsste, damit sie Angst bekommt, aber die Frage verkneife ich mir. Ich will ihr ja keine Angst machen. Ich mag furchtlose Menschen.)

“Kommen ihnen Menschen näher?”

“Manche ja.”

“Betreten die auch den schwarzen Bereich?”

“Ja, ist auch schon vorgekommen, aber ich achte auf den Abstand, wegen Corona.”

“Stellen viele Fragen über ihre sexuelle Vorlieben?”

“Manche. Etwa Hälfte, Hälfte.“

“Antworten sie immer ehrlich?”

“Ja.”

“Was machen sie, wenn jemand es darauf anlegt, sie manipulativ zu fragen, um sie psychisch so richtig auszuhebeln?”

“Ich halte mich für einen gefestigten Menschen.”

“Würden sie ein Interview abbrechen?”

“Nein. Der Besucher bestimmt, wann das Interview zu Ende ist.”

“War jemand schon zum zweiten Mal hier?”

“Nein.”

“Doch. Ich.”

“Sie?”

“Ja, gestern, aber ich hatte etwas anderes an.”

“Ah.”

“Haben Sie schon mal an einer Orgie teilgenommen?”

“Nein.”

“Fänden Sie das interessant?”

“Nein.”

“Okay, also kein Orgienmensch”, versuche ich einen Witz, aber mit Masken und diesem elenden Brummen ist Humor unmöglich.

“Stehen sie auf Männer oder auf Frauen?”

“Männer.”

“Was war ihr schlimmstes Erlebnis?”

“Die Trennung von meinem Ex-Freund. Da waren Depressionen im Spiel, das war schlimm.” (ich frage nach, sie erzählt ein bisschen darüber, an den persönlichen Stellen könnte ich tiefer reingehen, aber ich bin keine Psychologin und deshalb höre ich an dem Punkt auf.)

“Wie bist du zu dieser Performance gekommen?”

“Weil ich an der Uni immer viele Fragen gestellt habe, beziehungsweise Dinge gefragt habe, wo die anderen mir ständig gesagt haben, das kannst du doch nicht fragen!”

Das Gespräch geht noch ein wenig weiter. Ich bedanke mich schließlich, hole mir eine Limonade im Casino und gehe nach draußen in den Innenhof. Bin unentschlossen, wie ich das finden soll. Ich hätte auch ganz anders fragen können, zum Beispiel wie sie über mich denkt. Zirkulär, hypothetisch, konfrontativ, provokativ, gibt ja dutzende von Fragetechniken. Irgendwie bringt mich die Aktion auf viele Gedanken, aber irgendwie war das alles auch seltsam künstlich und ich kann und will gar nicht bewerten, woran es liegt, dass es immer noch nicht besonders spannend verlief. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, wie bescheuert ist es, Menschen einfach so nach ihrem Sexleben zu fragen? Oder nach etwaigen psychischen Abgründen zu forschen, weil man es kann. Weil einem die Situation die Macht gibt, das zu tun? Deshalb? Das ist mir zu blöd und im Grunde ist es niederträchtig. Es ist eben kein Spiel wie „Therapy“, weil es keine Regeln gibt, nur Impulse und eine Steuerungsinstanz, die ich bin. Ich bin der Bestimmer, so fühlt es sich zumindest für mich an. Ohne meine Fragen passiert hier nichts. Soll man das ausnutzen? Als Experience? Bin nicht der Typ für solche Psychospielchen. Allerdings, denke ich, sollte ich an meinen Fragetechniken feilen. Präziser sein, nachforschender, zielgerichteter, reflektierter.

Im Innenhof der Akademie findet das Frustfestival statt. Ein paar kaputte Zelte liegen herum, Luftmatrazen, Schirme, insgesamt schaut es aus wie eine Installation von Isa Genzken. Auf der Bühne liegt ein weißes Seidentuch, in das, wie in einem Kokon, eine Person eingehüllt ist. Sie krabbelt heraus. Ah! Der Typ mit dem Kabel. Er trägt – einen Sport-Bustier!? Ah, okay. Jetzt checke ich es. Ich will mit ihr sprechen.

“Bist du Franzi?”

“Ja, der Kiosk hier ist meiner.”

“Was hast du da gerade auf der Bühne gemacht?”

“Mich in Stoff eingenäht.”

“Du warst das gestern auch mit dem Kabel um die Zunge, oder?”

“Ja, das war aber Wolle. Ich mach viel mit Stoff. Auch die Stickereien und Quilts oben.”

“Ah cool, das mochte ich. Stoff ist toll, anders. Ich mag Materialität. Lustig auch, dass du als Transfrau Handarbeit als Ausdrucksform wählst. Dann verstehe ich das auch mit der Wolle, klar. Die Quilts haben mich an was erinnert…”

“Ja, an das Feminist Qulit Movement. Ich lese hier auch auf der Bühne aus dem SCUM-Manifest von Valerie Solanas vor, das ist übrigens die, die auf Andy Warhol geschossen hat…”

“Wir haben letztens seine Diaries auf Netflix gesehen, spannend…”

“Ich mag die Feminismusbewegung der 70er Jahre, aber mir ist natürlich bewusst, dass ich da kulturelle Aneignung betreibe.”

“Warum?

“Na, weil ich nicht in der Zeit lebe. Ich lebe ja im hier und jetzt. Und die Feministinnen von damals hätten mich als Transfrau vermutlich auch gar nicht in ihren Reihen akzeptiert. Da gibt es ja immer noch extrem viel Ablehnung. Damit spiele ich in meinen Performances natürlich auch. Und provoziere. Rücke den Leuten total auf die Pelle. Das finde ich witzig.”

“Hab ich gemerkt”, grinse ich.

Franzi erzählt mir von ihrem Faible für’s Nähen und für Stoff (“kommt vom Punk, da mussten wir uns immer alle Klamotten selber nähen”) ihren Depressionen und denen ihrer Mutter nach ihrer Geburt, von ihrer Freundin, dass sie seit kurzem Hormone nimmt, von ihrem Lateinstudium (sie tippt dabei mit dem Zeigefinger auf das „Wölfin“- Tattoo auf dem Oberarm) und davon, dass sie Angst vor dem anstehenden Praktikum in der Schule hat, weswegen sie jetzt weiter freie Künstlerin sein will.

Ich folge ihr jetzt auf instagram unter @nichtherrjuergens. NichtHerrJuergens ist cool. Ich mag alles an NichtHerrJuergens beziehungsweise Franzi. Sie als Person, ihre Näh-Kunst, ihre Art zu sprechen, ihre Mission, den Witz, ihre Kunst – einfach alles. Alles ist stimmig, offen, durchdacht und obwohl provokant sehr ehrlich und warmherzig. Es braucht keine Künstlichkeit, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, keine leeren, brummenden, klaustrophobischen Räume, sondern einfach nur Neugier und Offenheit. Dafür sollten wir Settings schaffen, überall.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s