Wir Deutschen lieben Weihnachten! Wir haben Weihnachten quasi erfunden! Und Weihnachten in unserem Dorf ist so ziemlich das Romantischste, was man sich vorstellen kann:
Stundenlang steht man am Vorabend des 24. Dezembers im Gemischtwarenladen Brox, im engen Gang, in der sich vollständig durch den schlauchartigen Laden windenden Schlange, vor dem Post-Paketschalter, zwischen den Porzellan- und Schreibwaren an, und erlebt manch‘ verbales Gemetzel vor den benachbarten Regalen mit den Spielwaren: “Na klar kannst du das Legoset haben… für… äh, 250 Euro? Na, das ist jetzt vielleicht, also für das Christind… also das ist ja jetzt auch nicht Krösus, das Christkind… schau doch bitte mal weiter unten… ja, nein, ich weiß nicht, wer Krösus war, das sagt man so, wenn… guck mal… das da unten ist viel schöner… nein, das legst du jetzt bitte sofort wieder zurück! Sofort, habe ich gesagt!” “Wuhääää!” Das Kind wird unter den betroffenen Blicken der Schlangesteher völlig desillusioniert aus dem Laden geschlörrt.
Auf der Straßenseite gegenüber, vor dem Optiker Dallinghoff, spielt derweil der Leierkastenmann Jörg diverse Weihnachtsschlager als peppige musikalische Einstimmung der frohen Kunde. Vor zwei Jahren stellte sich die Organistin Marita Schärich – Gott hab sie selig – dazu, zog ihre rein zufällig mitgebrachte Sopranblockflöte aus der Tasche und machte ein kleines Blockflöten-Take-Over. Das machte sie im Grunde zu jeder Gelegenheit. Standen irgendwo Leute im Dorf herum, gesellte sich Marita dazu und es dauerte nicht lange, da flötete es in das Gespräch hinein. Marita beflötete bei Bedarf selbst Jugendliche beim Mampfen ihres Döners vor dem Schlemmerecken Grillimbiss mit einer passenden Blockflöten-Weise.
Während ich also mit meinem Weihnachtspullover, 8 Euro von Aldi, die letzten Weihnachts-Besorgungen (Eyeliner und Wimperntusche) vornehme, treffe ich auf der Herrenstraße meine Freundin S., die mein Outfit abschätzig mustert: “Toller Pullover!” entfährt es ihr spontan, und: Oh Heiliges Weihnachtswunder Nummer eins, ich kann ihre Gedanken lesen: “Was ist das denn bitte für ein Unterschichten-Look?” Unbekümmert von dieser Art dörflichen Klassizismus betrete ich den DM, wo ich auf eine andere Freundin C. treffe, die in einer Art innere Emigration versunken ist, während ihre Töchter durch die Gänge flitzen und die letzten Geschenke besorgen. C. hat soeben, quasi mitten im DM, genauer gesagt vor dem Regal mit dem Klopapier und den Tampons, die heilende Kraft der Zen-Meditation entdeckt: Kenshō, Satori, Sōtō. Wer braucht ein Mittelmeer-Zen-Retreat, wenn er den DM hat?
Vor ein paar Jahren gingen wir alle mit unseren Kindern am Weihnachtsabend in die Heilige Messe um halb fünf. Das war sehr praktisch, weil man um sechs zu Hause war, weil man um neun schnarchend und alle Viere von sich streckend das Sofa vollsabbern konnte. Diese Messen waren ein zauberhaft opulentes, theatralisches Wimmelbild. Es gab ein klassisches Krippenspiel, bei dem aus jeder Familie mindestens ein Teil eingespannt war: Die einen hatten das Bühnenbild gebastelt, andere die Heiligenscheine erstellt, die nächsten Kommunionkleider zu Engelskostümen umgewandelt, Blockflöte und Texte einstudiert und Fridtjof hatte seine kostbare Babypuppe Charlene als Jesuskindchen gespendet, auf die wir allesamt sehr sorgsam aufpassen mussten. Außerdem durfte der Jesus, also Charlene, ihren Schnuller nicht verlieren oder bewegt werden, weil sie sonst einen ihrer 90 einprogrammieren Sätze aufgesagt hätte. Unser Jesus war nämlich nicht nur genderfluide, sondern auch interativ.
Die Rolle des Vorlesers der biblischen Geschichte war in jenem Jahr an den Esel gefallen. Der Esel war eigentlich die Frau vom Postschalter, eine große tizianblonde Erscheinung mit kurzen Haaren und klirrender Stimme. Die Frau vom Postschalter, die mich an eine amüsante “Gift-Paket”-Geschichte erinnerte, trug jetzt ein Esel-Ganzkörper-Kostüm und hob an: “Es geschah aber in jenen Tagen, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, den ganzen Erdkreis aufzuschreiben.” Dem ersten Hirten wurde, ob des vor der Predigt reichlich verteilten Weihrauchs, schlecht. Eine Engelbetreuermutter bugsierte den taumelnden und würgenden Hirten in die Sakristei. “Dieser Zensus war der erste, er geschah, als Quirinius über Syrien herrschte.” „Nicht schon wieder Syrien“, stöhnte meine neben mir sitzende Mutter laut auf, als hätte sie das Weihnachtsevangelium zum ersten Mal gehört. Spätestens jetzt barg die Veranstaltung zudem politischen Sprengstoff.
“Und alle gingen, sich aufschreiben zu lassen, ein jeder in seine eigene Stadt.” Mein Mann, Sowi- und Geschichtslehrer, flüsterte belustigt: „Kannst du dich noch an die Proteste gegen die Volkszählung 1987 erinnern?“ Das konnte ich in der Tat! Während im Deutschland der 80er die Empörung gegen die Volkszählung, Stichwort “gläserner Bürger” keine Grenzen kannte, marschierten hier also Quirinius treue Staatsdiener Josef und Maria frohgemut, freiwillig und schwanger 150 Kilometer über den Highway 60, um sich bei den imperialistischen Römern “erfassen” zu lassen? Seltsame Sache. Überhaupt das mit der unbefleckten Empfängnis, auch so seltsame Sache, sinnierte ich weiter. Und plötzlich: Oh Heiliges Weihnachtswunder Nummer zwei, kam es mir in den Sinn, dass Maria vielleicht lesbisch war und wie meine Kollegin B. mit ihre Freundin C. sich mit Hilfe einer Art Spritzenvorrichtung befruchtet hatte. Zapperlott! Jetzt galt es für Sherlock Schnutinger nur noch das Geheimnis mit der Himmelfahrt zu lüften.
“Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen, und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn in der Herberge war kein Platz für sie”, durchfuhr der Esel meine weihnachtliche Erleuchtung und die gesamte Schauspieltruppe setzte sich auf das Kommando “Geburt” in Bewegung. Die Hirten führten in Szene 2 kapitalismuskritische Dialoge auf dem Feld auf, die mich an die Berliner Volksbühne erinnerten: “Ach, was ist das einfache Leben hier in der Natur schön!” “Ja uns fehlt es an nichts”, “So ein Lagerfeuer ist eine prima Sache.” “Zum Glück haben wir die Schafe, das ist unser Sinn.” “So ein Sinn im Leben ist eine gute Sache.” Ui, purposedriven Schäferjobs, dachte ich, das würde Hannah Arendt gefallen, von wegen vita activa.
Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Schwups, auf Knopfdruck, erstrahlte Pastor Schneiders neu eingebauter Megawatt-Halogenstrahler mitten aus der Rosette des Kreuzrippengewölbes in der Vierung hinab und der Verkündigungsengel erschien. Er war einer der vielen Knaben der Familie Reismann, jener mit den besonders schönen, blonden und lang gewachsenen Locken und er verkündete den Hirten die frohe Botschaft: “Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die dem ganzen Volk bereitet ist; denn heute ist euch der Retter geboren, der ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.” “Lauter”, riefen da einige aus den ersten Reihen und der Engel fummelte umständlich am Mikrofonverstärker an der Gürtelschlaufe herum. Nachdem die frohe Botschaft nun, dank funktionierender Technik, zum zweiten Mal durch das Innere der neugotischen Kirche hallte, erschienen die anderen weißgewandeten Kollegen aus dem Dunkel: Zwanzig an der Zahl! Diese gewaltige Anzahl an großen und kleinen Engeln beeindruckte meine noch gedanklich in Syrien weilende Mutter und beamte sie zurück ins christliche Abendland. Sie seufzte vor Glück und verdrückte ein Tränchen vor Innerlichkeit, während die Engel wie das kollektive Bewusstsein in der Serie Pluribus im Chor gleichgeschaltet sprachen: “Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“
Die Engel verzogen sich sodann in den Bühnenhintergrund, die Hirten eilten nun zu dem Gesang der Gemeinde – alle vier Strophen von “Zu Bethlehem geboren” – kreuz und quer durch die Kirche zur Krippenszene vor dem Altar, wo Fridtjof, alias Josef, Charlene, alias Jesus, während der Engel-Szene rasch eine Portion digitaler Milch verabreicht hatte, als wäre das Christikind eine Art Tamagotchi. Das löste nun leider das Sprachprogramm: Bäuerchen machen, Blähungen und Bauchkrämpfe bei Jesus aka Charlene aus und egal was Maria in der Folge versuchte, Bauchlage, Poklapser, sanftes Wiegen, in die Luft werfen, das Jesuskindlein furzte, Rülpste und plärrte aus Leibeskräften in das Mikrophon hinein, bis Joseph Jesus schließlich – in einer Weihnachten und das Publikum und überhaupt die ganze Welt vulgär anklagenden und dramatischen Geste – tränenüberströmt die Batterien entriss und verzweifelt auf den Boden niedersank. Pollesch at it’s finest. Ich war begeistert.
Der Esel nahm sich nun dem psychisch völlig dekonstruierten Josef an und begleitete ihn tröstend von der Bühne des Chorraumes zur Pieta-Seitenkapelle, wo er vom Awareness-Team in Form des Messdiener-Oberleiters in Empfang genommen wurde. Ein kleiner Hirte trat schließlich hervor rief in die anteilnehmende Stille des versammelten Kirchenvolkes hinein: “Und siehe da, ausgerechnet wir Hirten, wir einfache Leute vom Land, und er ergänzte offenbar eigenmächtig, ohne Smartphone und teurem Lego, ja, genau wir sind es, die Zeugen sind von der Geburt des Erlösers Jesus Christus. Tragt die frohe Botschaft in alle Welt!” und er murmelte noch was von “Scheiß Legopreise” und trat ab.
Die Organistin Maria Schärich zog in die betroffene Stille hinein nun alle 26 Register der 1854 von Josef Laudenbach genau für diesen Moment erbauten Orgel, um das große Gloria und Halleluja anzustimmen und in der Tat verschwamm in Subbass, Principal 8, Trompete, Weihrauch und lautstarkem Gesang das ganze weltliche Durcheinander zu einer friedlichen Melange vollkommenster christlicher Harmonie und als bei “Stille Nacht” zunächst wieder versehentlich die Lichter an statt aus gingen, kamen den Besuchern im Kirchenschiff – nach einem angenervten Stoßseufzer – schließlich die Tränen, was die Weihnachtsmesse schließlich erst zur vollkommensten katholischen Perfektion werden lässt.
“Liegt Nazareth denn in Syrien”, fragte meine Mutter beim Hinausgehen aus der Kirche und als ich ihr sagte, dass Jesus so gesehen syrischer Jude war, wurde sie sehr grüblerisch. Jetzt haben wir ein Jahr Zeit, diese historische Volte des christlichen Abendlandes in terms of Migration, Kolonialismus und Diversity an diversen Kaffeetafeln Orangen-, Marillen- und oder Eierlikörschwanger zu ergründen und ich bin schon gespannt, was meine liebe Mischpoke zu meiner Lesbenidee sagen wird…
