Brecht, Bühnenalkohol und Dietzenbacher Existenzialismus

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KI-Faschokitsch und die gesellschaftliche Bedeutung der Avantgarde – ein Essay

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Ute Hamelmann im Atelier

Über die Kunst des Alles-Fragen-Könnens

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Man muss nicht erst in den Urwald fahren und sich von Kannibalen verspeisen lassen, um ein Abenteuer zu erleben, man kann auch einfach den Jahresrundgang der nächstgelegenen Kunstakademie besuchen. Das habe ich am Samstag getan. Documenta en miniature in Münster.

In der Eingangshalle begrüßen uns kleine, auf dem Boden stehende, phallisch geformte Holz-Figuren, die wie Stempel aussehen und ein Staubsauger auf einem Hochflorteppich. In der Ecke rechts von uns sitzt ein ziemlich großer Typ (Mann? Frau? Wirklich schwer zu sagen) im Punk-Outfit, mit gefärbtem Haar, schwarzem Shirt, kurzer Hose, Springerstiefeln, starrt uns mit weit aufgerissenen, schwarz umrandeten Augen an und wickelt sich in zuckend hektischen Bewegungen ein dünnes schwarzes Kabel um die Zunge. “Krass”, denke ich, “Kritik an der Digitalisierung vermutlich.” Weil der Typ mich andauernd so dermaßen irre und herausfordernd anstarrt, blicke ich verstört wieder weg und wieder hin und wieder weg und wieder hin, und immer, wenn ich zu ihm blicke, fixiert er mich wie verrückt, guckt sehr wütend und umwickelt noch energischer seine Zunge. Spooky. Wir schlendern in den nächsten Raum. Der Typ verfolgt uns, setzt sich jetzt in die Ecke dieses Raumes, glotzt uns wieder mit irre aufgerissenen Augen an und wickelt erneut aggressiv an seiner Zunge herum. Wir fühlen uns bedrängt und huschen schnell weiter, die Treppen hinauf, an getöpferten “identity”-Sprüchen vorbei und an diversen mit Steinen gefüllten Suppenkellen, die überall auf dem Boden herum stehen und über die die Besucher allenthalben stolpern, um sie dann, peinlich berührt, wieder aufrichten zu müssen.

Trigger

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Wenn ich drüber nachdenke, bin ich in meinem Leben oft getriggert worden. Graf Zahl aus der Sesamstraße war der erste Trigger, an den ich mich bewusst erinnern kann. Er kam, zählte und lachte, zum Lachen kamen diese furchtbaren Blitze und Fledermäuse. Wenn die Blitze zuckten, bin ich sofort ängstlich hinter das Sofa gesprungen! Der melancholische Bert hat mich getriggert und das graue Schlafzimmer von Ernie und Bert – deprimierend. Oder Clowns! Riesentrigger, wer lässt derartige Gruselwesen auf Kinder los?

Urlaubskolumne

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Ich arbeite ja beim Lotto. Das sagt man wirklich so: Beim Lotto! Warum weiß ich nicht, aber ich habe das inzwischen übernommen. Seit zwanzig Jahren arbeite ich da schon, beim Lotto. In ganz unterschiedlichen Funktionen. Jedenfalls wird man in so einem Job häufiger mit dem Gedanken konfrontiert: Was wäre, wenn du 90 Millionen Euro gewönnest.

Ja was eigentlich? Was wäre the place to be, the place to die?

Grumpy Family

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Ich mache mir nichts vor, ich bin Mitte vierzig und werde grumpy. Es führt auch kein Weg daran vorbei. Bei mir in der Familie hatten wir viele grumpy people. Eigentlich waren wir Grumpy-Family. Meine beiden Tanten, Sissi und Toni, lebten zusammen, nachdem ihre Männer im Krieg gefallen waren, und sie waren ein Ausbund an Grumpiness. Grumpy in olympischem Ausmaß! Ich glaube, ihre Gesichtsmuskeln waren irgendwann so konditioniert, sie hätten nicht mal mehr lächeln können, selbst wenn sie gewollt hätten. Sie zupften den ganzen Tag Unkraut in ihrem riesigen Gemüsegarten und schimpften dabei leise murmelnd vor sich hin. Mein Opa väterlicherseits war auch sehr grumpy. Er saß immer auf dem roten Sofa in der Küche, guckte durch seine dicke schwarze Brille grumpy in die Welt und rauchte dabei Zigarre. An mehr erinnere ich mich nicht, wirklich! Oder er saß an der Theke in der Hansa Stube, da war er vielleicht fröhlich, aber das weiß ich nicht.

Ich erfuhr irgendwann später, dass er beim Finanzamt gearbeitet hat, obwohl er eine Karriere als Unternehmenschef oder Organist hätte machen können, aber dann gäbe es mich wohl nicht. Tja, man kann nicht alles haben. Seine Frau, meine Oma Grete, auch ein ziemlich grumpiger Fall, außer wenn sie klassische Musik hörte, da summte sie fröhlich. Und der Onkel, Bruder meines Vaters, auch. Unsere Familienfeste, hei, da war was los, ich sage es euch! Neulich erfuhr ich, dass der besagte Onkel früher mal eine sehr intensive Beziehung zu einem Jungen hatte und in der Zeit sehr glücklich war. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, der glückliche Onkel, einfach weil es so abwegig war. Man, sieht, Grumpiness ist in unserer Familie genetisch bedingt und damit auch für mich unausweichlich.


Trotzdem arbeite ich natürlich dagegen an! Ich stelle mich morgens vor den Spiegel und mache zum Beispiel Lächeln-Übungen. Embodiment heißt das. Das habe ich neulich in einem TED-Talk gehört, das hilft: Mache eine Power-Pose und du wirst zur Power-Frau! Stell dich breitbeinig hin oder setz dich breitbeinig hin, nimm die Arme hoch, zeige deine Mukkis, mache ein breites Kreuz und du wirst zum Gewinnertyp! Also mache ich ganz viele Power-Posen und Lächeln-Posen und Arm-Hoch-Posten vor dem Spiegel und fühl mich super – zumindest für die nächste Stunde.


Gestern hat unser Jüngster seine Kumpels mit nach Hause gebracht. Theo und Ibo, Ibrahim. Ibo ist mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet. Da war er vier. Er hat sechs Geschwister, sein leiblicher Vater ist im Krieg gefallen. Nun ist dieses Kind so dermaßen freundlich und fröhlich, dass es mich regelrecht umgehauen hat! Wirklich. Ich kenne kein freundlicheres Kind. Auch die Mutter von Theo ist ganz begeistert. Mir war schon in der Schule aufgefallen, dass er mich sofort wahrnahm, wenn ich ein vergessenes Pausebrot oder einen Turnbeutel anschleppte und mir immer sofort sagen konnte, wo sich mein Sohn befand. Ich liebe aufmerksame und umsichtige Menschen!


Tja, was soll ich sagen, die Fröhlichkeit und Freundlichkeit dieses Kindes ist direkt mimikrymäßig auf mich übergeschwappt. Und ich übe mich jetzt in Ibo-Freundlichkeit. Das ist ja das gute an der Biologie, man kann den Genen ein Schnippchen schlagen, nämlich durch Anpassung. Man kann sich im Grunde prima selber evolutionieren. Mache ich jetzt. Jeden Tag ein bisschen. Ibo-Co-Evolution. Survival of the friendliest. Grumpiness go home!

Was war ihre Rettung?

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Hinten im ZEITmagazin gab es vor einiger Zeit diese Rubrik: „Was war ihre Rettung?“ Ich hab das immer gelesen. Jetzt stehen da Interviews mit Psychologen, die lese ich auch immer. Zum Beispiel über Ehe-Stellvertreter-Streits an der Spülmaschine. Haben wir natürlich auch, mein Mann und ich, die Stellvertreter-Spülmaschinenstreits – wer nicht?Aber die Frage: „Was war ihre Rettung“ hat sich tief eingebrannt in mein Gedächtnis. Nun gehöre ich zu den glücklichen Menschen, die bislang von Schicksalsschlägen verschont geblieben sind, so dass meine Rettungen eher im Kleinen liegen. Zum Beispiel ein Bierchen am Abend kann eine prima Rettung von einem richtig blöden Arbeitstag sein, oder die Betrachtung einer schönen Skulptur, wie den Schadow Schwestern in der Alten Nationalgalerie in Berlin, Rettung vor allem Hässlichen der Welt, oder meine zwei witzigen Freundinnen, die mich immer wieder retten, einfach weil sie da sind und viel Quatsch machen, wenns mir mal nicht so gut geht, und einfach so sind wie sie sind. Oder mein tollster und bester Ehemann der Welt, der einfach immer da ist, wenn es mir nicht so gut geht. Meine Rettungen sind so gesehen aber eher „Rettüngchen“.

Über die Ästhetik des Andersseins

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(eine Zugkolumne oder Lob der Streckensperrung)

Neulich sah ich diesen berühmten Filmausschnitt über lebensmüde Pinguine. Er heißt “Nihilist Penguin” und ist aus dem Film “Begegnungen am Ende der Welt” von Werner Herzog. Für diese Dokumentation ist der Filmemacher eigens mit seinem Kameramann in die Antarktis gereist und beobachtet dort nun eine riesige Pinguinkolonie. Tausende von Pinguinen, so weit das Auge reicht, überall auf der weißen Schneelandschaft kleine schwarze Punkte. Als er einen Pinguinforscher interviewt, sagt dieser, es gäbe immer ein paar Pinguine, die einfach ausscheren. Die nicht mit der Masse schwimmen. Alle anderen tausend rennen zum Meer. Diese nicht. Die rennen genau in die andere Richtung. Ins Landesinnere. Die widersetzen sich dem natürlichen Trieb, zu schwimmen, im Meer Nahrung zu jagen, sich zu paaren, eine Familie zu gründen, einen Bausparvertrag abzuschließen und so weiter – kennt man ja. Die wandern lieber aus und flüchten sich in die Leere der weiten fischlosen Schneelandschaft.

Irgendwas in denen sagt: Ich mach da nicht mit! Ich steig aus. Fuck you Pinguin-Konvention. Vielleicht sind das Vegetarier, oder Veganer, Aquaphobiker, oder doch von einer unstillbaren Todessehnsucht getriebene Thanatos-Pinguine, oder ist es etwas ganz anderes? Jedenfalls ist da nix zu machen mit diesen ollen Querköppen. Der Pinguinforscher sagt, dass man die immer wieder in die Kolonie zurücksetzen könne oder einfach ins Wasser schmeißen, die gingen trotzdem wieder ins Innere des Kontinents. Als sei das so eine Art innerer Zwang. Und man solle sich denen bloß nicht in den Weg stellen! Ich finde das toll. In ihrer unbeirrbaren Sturheit könnten das glatt westfälische Pinguine sein. Und er sieht wirklich wahnsinnig romantisch aus, der einsame Pinguin, wie ein Eremit in der Wüste.