
Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Davon verbrachte sie alle in unserem Dörfchen im Münsterland. Für sie ist unser Dorf der Nabel der Welt. Es gibt kein besseres Plätzchen zum Leben und Sterben. Rom, Dubai, London, Wien: Diese Städte fand sie am ersten Tag imposant, am zweiten hatte sie an allem was herum zu mäkeln, um am dritten Tag erleichtert festzustellen: Senden ist einfach das Allerbeste! Dabei ist es nicht mal besonders schön, unser Dorf.
Auch ich lebe inzwischen seit 49 Jahren hier und auch ich bin inzwischen der Überzeugung: Es gibt keinen besseren Ort zum Leben! Das mag am kognitiven Framing liegen, dass auch ich noch nie woanders gelebt habe, außer einem halben Jahr in Gütersloh Media-Worldwide.
Aber hey, der “New Yorker” liegt nur einen Tag später bei uns im Briefkasten als auf den Coffee-Tables im Greenwich Village. Ich überfliege jeden Morgen die New York Times, le Monde und den Guardian und arbeite in Mitten in Frankfurt in einem Großkonzern mit Menschen aus allen Nationen. Für die Met habe ich ein Opera-On-Demand-Abo – und wenn ich besonders eindrucksvolle Schauspieler*innen auf der Bühne sehen will, fahre ich eine halbe Stunde mit dem Auto nach Bochum oder Recklinghausen.
Mit meiner Imaginationskraft verwandelt sich die Grünfläche hinter unserem Garten in den Central Park oder Hampstead Heath. Entlang der Stever, unserer Oos, befinden sich ein Hallen-Freibad mit Spaßrutsche und Textilsauna, eine Boule-, Tennis- und Fußball-Anlage und ein halb verfallenes Schloss, das derzeit zu einem kulturellen Hot-Spot umgebaut wird.
Unsere Hamptons sind Norderney oder die niederländische Küste, unser Montauk Bergen aan Zee und unsere Fifth Avenue, der Prinzipalmarkt in Münster! Okay, unsere Rockefeller-Tanne, also die vor der Lambertikirche, wird nur von ein paar funzeligen Niedervolt Lämpchen geziert und zur „Lighting Ceremony” singen auch nicht die Backstreet Boys sondern die 6-Zylinder performen ihren Schweinachtsmann!
Murder und Crime gibt es ebenfalls “in the Dorf”. Wenn in unserem Dörfchen gemordet wird, dann stets spektakulär: Es gab Satanisten-, Macheten- und Lesbenmorde, die deutschlandweit für Aufmerksamkeit sorgten und einen True-Crime Podcast bei der ZEIT-Verbrechen füllten. Auch tödliche Fensterstürze wie der von Chet Baker in Amsterdam können wir bieten und acht Jahre lang lag ein Toter unbemerkt in einer Wohnung herum. Nicht zu vergessen Saalschlachten und blaue Augen früher beim Griechen, der eigentlich kein Grieche mehr ist, sondern inzwischen Türke, aber unter Ali Arslan immer noch Zeus heißt. Und beim Türken-Friseur, der eigentlich Jesiden-Friseur ist, einen Kunden, der mit Hitlergruß den Salon betritt, um sich einen French Crop frisieren zu lassen. Das Söhnchen war nach dem Friseurbesuch verstört – und wir auch – nicht nur wegen seines French Crops!
Unser Haarlem ist die ehemalige Siedlung der englischen Soldaten, das #MHLNFLD. Den kulturellen Mix der Schulen des Berliner-Weddings hat unsere katholische Grundschule locker abgebildet, was dazu führte, dass unsere Kinder einen Mitschüler, der auf einem kleinen Holzboot über das Mittelmeer geflüchtet ist, zum Freund haben. Mit diesem plant Sohn 2 später in unserem Dorf ein Promi-Restaurant zu eröffnen – ich darf aber auch vorbeikommen.
Zur dörflichen “Food Scene”: Der kleinen Bioladen ist gespickt mit kernigen Köstlichkeiten und einer fantastischen Käseauswahl. Auf dem Wochenmarkt wird holländischer Backfisch geboten, der samstägliche Stand vor dem russischen Supermarkt Gastronom verkauft saftige Schaschlikspieße. Im Gastronom gibt es überdies eine beeindruckende Auswahl an Instant-Ramen-Suppen, Soljanka, Trockenfisch-Snacks und Birkenwassern. Weiter gibt es “Döner mit alles” in der Schlemmerecke, die mit dem Dönerland konkurriert, großartige Haute Cuisine im Restaurant Hasenklee und Asian-Fusion-Kitchen in der Herrenstraße.
Niemals, so dachte ich als German Dorfkind der 90er, würde ich wie in fast allen amerikanischen Filmen der 80er und 90er (Oldboy, True Boy, The Lost Boys, Ghostbusters etc.) auf dem Bett liegend chinesische Nudeln aus diesen kleinen Takeout-Pappboxen mit Stäbchen essen. Jetzt kann ich meinen persönlichen “eating chinese food” Moment täglich erleben: Forever N2! Ein Hoch auf die Globalisierung!
Unsere Dorothy Parker heißt Anton Aulke und traf sich – statt im Algonquin – bei Middrup oder Söbbeke. Statt die WASP-Upper-Class beobachtete er lieber die Münsterländer “Lower-Class” wie Öhm Bännatz und Schult Kleikamp und schrieb derbe plattdeutsche Schelmenspiele darüber, die heute leider keiner mehr versteht. Unser Münsterländer Rockefeller ist der “tolle Bomberg”, ein stinkreicher Typ, der auf Konventionen pfiff und als Lord Godivo nackt durch Münster ritt. Ansonsten ist es geschichtlich recht mau hier in der Gegend, bis auf den weltgrößten Riesenammoniten “Parapuzosia seppenradensis”, den Heinrich Ettmann 1895 in der Bauerschaft Leversum ausbuddelte und der zum musealen Exportschlager wurde. Hätte der Heini sich dafür mal ein Copyright geholt!
Neureiche, Chick-Micky, Hautevolee, Bildungsbürgertum, Old-Money etc. haben wir natürlich auch in “the Dorf” und ein Neubaugebiet am Kanal – quasi unsere Außenalster mit Ruderclub und Yachthafen – wird wegen der opulenten weißen Villen liebevoll “Ocean Drive” genannt. Aber da wir alle den gleichen Struggle mit der Komplexität und den Paradoxien der modernen Welt, pubertierenden Kindern, älter werdenden Eltern und uns selbst haben, ist das alles ziemlich schnuppe.
Alternative Szene und Subkultur sind die Sache der Landfrauen. Sie haben neuerdings überall Kreativ-Büdchen aufgebaut, in denen sie stylische DIY-Produkte verkaufen. Außerdem veranstalten sie an geheimen Orten in der Bauernschaft (meist stillgelete Landgasthöfe, Achtung Kultfaktor!). exklusive, ausufernde Frauenparties. Ich warte ja noch auf die “Skirt Club” Senden-Edition. Die queere Szene beschränkt sich derzeit auf die Benennung einer Pommesbude, dem “Lesbos-Grill” und auf den örtlichen Schützenverein, wo ein schwules Schützenpaar vor zwei Jahren den Vogel abschoss. Das aktuelle Königspaar heißt übrigens Ziver und Meram Akyüz. “Kultimulti”, wie meine Mutter sagt, ist also auch bei den Fürst-Blücher-Boys von 1602 e.V. angekommen: “Hurra – Hurra-la-la-la-la und alles, und alles und alles schrie Hurra!”
Machen wir es kurz: Letztlich lebt ein Ort, egal ob New York, London oder Senden von lustigen und skurrilen Geschichten über die Menschen, die dort leben. Von der Kinder- und Katzen hassenden Charity Lady Paula Erbsenspeck (Gott habe sie seelig), vom lispelnden Bestatter, vom unterhaltsamen „Little Lord Fauntleroy“ mit einer heimlichen Liebe für Junk-Food und bis hin zu zwei älteren Damen, die Dorf-Nikolaus und Knecht-Ruprecht spielten und sich dabei reihum tingelnd die Schlehenschnäpse hinter die Binde kippten. An meinem Image als Fran Lebovitz von Senden arbeite ich noch. Aber wer um alles in der Welt würde sich trauen, darüber zu schreiben? Wo ist der ländliche Truman Capote, der aus dem La Côte Basque, pardon, aus dem Zeus berichtet? Er würde geschnitten wie der French Crop und gesellschaftlich geächtet mindestens wie Truman von der New Yorker High Society, denn da ist sich jedes Milieu einig: Man liebt den Verrat und verachtet den Verräter! Aber was tut man nicht alles, für ein bisschen Ruhm – und sei es in einem kleinen Dorf im Münsterland.
