(eine Zugkolumne oder Lob der Streckensperrung)
Neulich sah ich diesen berühmten Filmausschnitt über lebensmüde Pinguine. Er heißt “Nihilist Penguin” und ist aus dem Film “Begegnungen am Ende der Welt” von Werner Herzog. Für diese Dokumentation ist der Filmemacher eigens mit seinem Kameramann in die Antarktis gereist und beobachtet dort nun eine riesige Pinguinkolonie. Tausende von Pinguinen, so weit das Auge reicht, überall auf der weißen Schneelandschaft kleine schwarze Punkte. Als er einen Pinguinforscher interviewt, sagt dieser, es gäbe immer ein paar Pinguine, die einfach ausscheren. Die nicht mit der Masse schwimmen. Alle anderen tausend rennen zum Meer. Diese nicht. Die rennen genau in die andere Richtung. Ins Landesinnere. Die widersetzen sich dem natürlichen Trieb, zu schwimmen, im Meer Nahrung zu jagen, sich zu paaren, eine Familie zu gründen, einen Bausparvertrag abzuschließen und so weiter – kennt man ja. Die wandern lieber aus und flüchten sich in die Leere der weiten fischlosen Schneelandschaft.
Irgendwas in denen sagt: Ich mach da nicht mit! Ich steig aus. Fuck you Pinguin-Konvention. Vielleicht sind das Vegetarier, oder Veganer, Aquaphobiker, oder doch von einer unstillbaren Todessehnsucht getriebene Thanatos-Pinguine, oder ist es etwas ganz anderes? Jedenfalls ist da nix zu machen mit diesen ollen Querköppen. Der Pinguinforscher sagt, dass man die immer wieder in die Kolonie zurücksetzen könne oder einfach ins Wasser schmeißen, die gingen trotzdem wieder ins Innere des Kontinents. Als sei das so eine Art innerer Zwang. Und man solle sich denen bloß nicht in den Weg stellen! Ich finde das toll. In ihrer unbeirrbaren Sturheit könnten das glatt westfälische Pinguine sein. Und er sieht wirklich wahnsinnig romantisch aus, der einsame Pinguin, wie ein Eremit in der Wüste.
Neuerdings befasse ich mich mit Hirnforschung. Das kommt daher, weil man ja jetzt ein anderes, sehr körperliches Verständnis vom Hirn hat. Nicht mehr der olle Descartes mit seinem “Ich denke, also bin ich”-Dualismus, sondern jetzt fresh aus der Hirnforschung “ich bin, also denke ich”-Ganzheitlichkeit. Neurologen glauben, dass das Hirn eigentlich gar nicht zum Denken da ist, sondern nur dazu, unseren Körper zu regulieren. Das Gehirn beansprucht nämlich allein schon zwanzig Prozent unseres Stoffwechsels. Jedenfalls ist das Hirn trotzdem so eine Art selbstorganisiertes System in unserem ebenfalls selbstorganisierten Körper. Und der britische Neurologe Carl Frinston hat aufgrund dieser Selbstorganisationstheorie herausgefunden, wie das funktioniert, das Hirn. Das erstaunliche daran: sehr einfach! Er hat sehr komplizierte Blanket-Formeln übers Denken gelegt und die zeigen: Das Hirn will nur eins: Stabilität. Keine Erschütterungen! Es sagt Nein zu freien Energie. “Ruhe! Ruhe!”, ruft es effibriestmäßig im Sekundentakt. Tatsache ist: Unser Hirn mag keine Überraschungen.
Was hat das jetzt mit unserem Pinguin zu tun? Mit Menschen? Mit mir? Offenkundig wollen weder der Pinguin noch ich Ruhe haben. Wir wollen was erleben, Grenzen testen. Wir rufen: Heidewitzka, her mit der Veränderung! Wir wollen auf die Pauke hauen, Überraschungen, Neues, Anderes, Abenteuer! Sind wir deshalb lebensmüde? Nihilisten? Haben wir ne Macke? Geht ja eigentlich nicht, wegen unseres nachweisbar simplen Hirns, das schon von Natur aus nach Ruhe, Ordnung und Einfachheit strebt. Rein biologisch ist es gewissermaßen ausgeschlossen, dass wir Unruhe wollen. Es muss also was anderes sein, dass uns da innerlich antreibt, uns immer wieder, scheinbar kopflos, in neue Dinge hinein stürzen und einlassen lässt. Es ist sicherlich nicht mit Carls Markov Blanket messbar, was in diesen Situationen in Pinguinen und Menschen vorgeht und ich vermag es bei mehrfacher hin und her Wendung meiner grauen Zellen ehrlich gesagt eigentlich nur im Metaphysischen zu finden. Es hat so was Großes, Lebenshungriges, Weites, Offenes, Mutiges, Schönes – die Ästhetik des Andersseins. Eat this Werner, eat this.