(English Version of this column ‚Comfortable Discomfort‘ soon below)
Wenn ich in Frankfurt bin, probiere ich gerne neue, exotische Sachen aus. In der Kleinmarkthalle bestellte ich mir gestern zum Beispiel die berühmte warme Fleischwurst der Metzgerei Schreiber mit Senf und Brötchen. „Unser Bestseller“, gluckste die ältere Dame mit Dauerwelle und Kittelschürze hinter der Theke, und klärte mich über den Gesundheitszustand der „alten Frau Schreiber auf. Weil: Sie sei ja nicht die alte Frau Schreiber! Weil: Die die alte Frau Schreiber könne das in ihrem Alter nicht mehr so gut…, aber nichts gegen die alte Frau Schreiber, eine prima Frau! Sie verstehen schon, was ich meine…“ Ich verstand die kleine schambehaftete Petzwurst hinter der Theke und verspeiste meine, nicht sonderlich anders als andere Fleischwürste schmeckende, Schreiber-Spezial-Fleischwurst mit einem Glas Weißwein (Sommercuvé 2024) beim Rollander auf der Markthallen-Terrasse.
Na ja, ich versuchte es, weil ich mich versehentlich an einen Stehtisch mit einer völlig betrunkenen Frau daran gestellt hatte, die meine Fleischwurst und mein Brötchen nötiger hatte als ich. Jekaterina, üppig mit Goldkettchen behangen, langhaarig blond und eine rosafarbene LA-Kappe tragend, Anästhesistin, wohnhaft in LA, Prag und Bornheim. Ihr portugiesischer Lover hatte sie soeben verlassen: deshalb der viele Alkohol! Nachdem ich von Jekaterina fünfmal abgeknutscht worden war, fuhr ich, immer noch hungrig, mit meinem Leihfahrrad zu meinem eigentlichen Ziel: Das Künster*innenhaus Mousonturm in eben jenem Stadtteil Bornheim, in dem auch Jekaterina wohnte. Der Mousonturm ist eine ehemalige Seifenfabrik und seit 1988 ein weltweit bekannter Hotspot für Indie-Kunst.
Auf dem Programm stand „Macho Dance Workshop“. Nach einer langen, nüchternen Bahnfahrt und einem Glas Wein genau das richtige für mich!
Angeboten wurde der kostenlose Workshop für alle Geschlechter im Rahmen des „Philippinischen Festivals“, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Ich hatte eine weite schwarze Jogginghose eingepackt, ein weites schwarzes T-Shirt und ein paar alte Turnschuhe „adidas meets OffWhite“, yeah. Einmal um das Künstler*innenhaus herum, durch den Hintereingang in die 6 Etage mit dem Aufzug, dort zur Probebühne Eins: Ein großer Saal, mit einem schwarzen Linoleum-Boden, zwei großen Fensterfronten zur Waldschmidtstraße und zum Hof hinaus, einer wandfüllenden Spiegelfront an der einen und einer weißen, mit Discolicht bestückten, Wand an der angrenzenden Seite. „Bitte nicht über die Strahler stolpern, die sind für die Performance“, rief ein Mann hastig aus dem Raum huschend. Performance? So viel Exotik musste es dann doch nicht sein.
Etwa 20 Personen, weiblich, vorwiegend um die dreißig, weiß, und ein Mann, Hans, über 70, hatten sich zum Workshop eingefunden. Hans schwärmte von der philippinischen Tanzlehrerin Eisa Jocson. Er habe sie schon bei ein paar Macho-Dance-Performances hier im Mousonturm gesehen und war absolut begeistert. Claudia, um die fünfzig, mit einer überdimensional großen schwarzen Hornbrille und einem Dutt, der ihre schwarzen langen Haare auf dem Schopf notdürftig zusammenhielt, schob hinterher: „Ich kenne sie aus dem Peaches Video, How you like my Cut, das sie getanzt hat.“ Das kannte Hans wiederum nicht. Überhaupt kannte er Peaches nicht: „Das ist doch die progressivste Ikone des Feminismus in der Popkultur“, warf ich ein. Hans war enttäuscht, dass nur so wenig Teilnehmer dabei waren, er hatte hunderte zum Machotanz erwartet.

Zunächst saßen wir im Kreis und schilderten auf Englisch, warum wir an diesem Workshop teilnehmen. Ich sagte, aus Neugierde und weil ich gerade zufällig in der Stadt sei. Von den jüngeren Frauen machten viele eine Ausbildung im Bereich Tanz oder Drama und interessierten sich für Gender-Fluidity, wie Mira. Hans wollte seine Körperwirkung im Raum spüren. Claudia mochte es wild zu tanzen, vor allem im Club.
Eisa, unsere Trainerin, Mitte vierzig, etwa 1,60 meter groß, brauner Teint, langes schwarzes Haar, dunkelgrünes Tank-Top, eine weite Military Hose und grüne Palladium-Desert-Boots, klärte uns über die Bedeutung des Macho-Tanzes auf. Auf den Philippinen würde diese Tanzform von schwulen Männern, genauer Strippern, in speziellen Gay Bars im Rotlichtviertel von Manila getanzt. Es gebe auch einen bekannten Gay-Film mit dem Titel „Macho Dancer“. Zielgruppe in den Bars seien „straight men and women“. „Straight?“, fragte ich verdutzt. „Yes“, antwortete Eisa. Ich war verwirrt. Warum sollten straight men and women in einen Gay-Club gehen? Jedenfalls zahlen die Kunden, für eine heiße Macho-Dance-Performance. In der Regel allerdings sehr wenig. Macho Dancer, das lese ich später im Internet, werden ziemlich ausgebeutet und sind oft junge Männer, die vom Land in die Stadt kommen und in prekären Verhältnissen leben. Na wunderbar, ich tanze gleich einen Ausbeutertanz schwuler philippinischer Stripper-Jungs – mehr kulturelle Aneignung geht wirklich nicht. Und das nur, weil ich neugierig bin. Ich alte, weiße, privilegierte First-World-Woman komme mir plötzlich schäbig, weil schrecklich oberflächlich vor.
Die Macho-Tanzform sei inzwischen von einigen lesbischen Frauen entdeckt worden, so Eisa weiter. Jetzt war noch verwirrter. Warum adaptieren lesbische Frauen ausgerechnet Macho-Posen? Und: Wer war ich denn nun in diesem Konstrukt? Der Mann, die Frau, schwul oder lesbisch? Eisa selbst komme aus dem Pooldancing und sei dann zum Macho-Tanz übergewechselt, was sie nun schon seit fast sieben Jahren professionell betreibe. Dann fragte Eisa, ob wir Knieschoner dabei hätten für den Bodenteil. Knieschoner seien Standard-Kleidungsteil für Macho-Tänzer, neben einem knappen Jeansshort, Cowboystiefeln und Tank Top. Bodenteil? Nein. Egal! Let’s go!
Zum Warmmachen klopfen wir uns ab und mussten 15 Liegestützen machen. In der kommenden Stunde lernen wir in Zeitlupe machomäßig zu gehen, breitbeinig mit breiten Schultern, zu atmen, die Muskeln anzuspannen, wieder zu entspannen, Raum zu nehmen, mit unserer Aura zu spielen und sexy Posen des Machotanzes. Wir lecken uns langsam über unsere Arme und streichelen unseren Körper. Vor allem muss man permanent seinen Genitalbereich cowboymäßig weit nach vorne schieben und die Schultern leicht nach hinten, dabei aber in den Knien ganz locker bleiben. Wie ein Cowboy, jederzeit Schießbereit, sagt Eisa ernst. Auch ich nehme das alles sehr ernst, schließlich ist es für Eisa eine wichtige Kunstform und ich will nicht unhöflich sein.
Sie machte die Übungen vor, wir alles nach und ich musste mich wahnsinnig geistig und körperlich anstrengen, um alles nach ihrer Vorgabe umzusetzen, jeder Muskel war angespannt, jeder Schritt einstudiert. Nach einer Stunde ließ meine Kondition nach. Machosein, welch‘ anstrengendes Unterfangen! Auf Eisas Frage, wie wir uns fühlten, gab es von Hans energische Two tumbs up, Claudia kicherte und gluckste ein fröhliches „super!“, Mira nickte ernst und stretchte sich weiter. In der Pause schaute ich mir das Musikvideo mit Eisa von Peaches an, das war eindeutig erotisch, sogar ein bisschen pornografisch. Aber wo war da eigentlich die Grenze? Jedenfalls hatte ich jetzt auch den Bodenteil verstanden: Eisa penetrierte in dem Video in der typischen Macho-Dance-Kluft kniend und mit offener Hose und herunter hängemder Gürtelschnalle eine unsichtbare Person, die vor ihr auf dem Boden zu liegen schien. Nice. Aber sollten wir DAS im Kollektiv gleich auch machen? Holy Moly!
Ich las, dass Eisa schon in der TateModern aufgetreten war, im HAU in Berlin, eine Ausstellung bei der Biennale in Sydney und zahlreiche Tanzvideos veröffentlicht hatte. Sie war eigentlich mehr Künstlerin als Tänzerin. Auf einem Foto der Biennale in Sydney war sie mit nacktem Oberkörper abgebildet und verkörperte für mich in einer Art weiblicher Männlichkeit, die mich an das dritte Geschlecht erinnerte. Eisa hatte einen durchtrainierten, sportlichen Körper, ihr Gesicht war fein und doch besaß es einen leicht herben, durchaus männlichen Zug. Ihr Markenzeichen: ein um den Hals geschlungener Rosenkranz. Den trug sie auch im Workshop. Rosenkranz? Wieder war ich verwirrt. War das Camp? Kitsch? Oder glaubte sie wirklich an die Kraft der Mutter Gottes? War sie gar religiös? Gerne hätte ich mehr über die Bedeutung des Rosenkranzes erfahren.
Hach, es waren ja so viele Meta-Meta-Ebenen in diesem Raum versammelt! Aus der Perspektive der Kunsthistorikerin ein Füllhorn und irres Sammelsurium komplexer Themen, die hier ineinandergriffen. Re:Re:Re:Entry würde der Systemtheoretiker Niklas Luhmann das nennen, so viele Systeme vermengten sich in diesem Tanzsaal. Was haben die Waldschmidtstraße und ein Gay-Strip-Club in Manila gemeinsam? Warum die Military Kluft zum lesbischen Gay-Dance-Take-Over? Darf eine alte weiße Frau einen armen, schwulen philippinischen Stripper verkörpern? Oder eine Lesbe, die einen schwulen philippinischen Stripper verkörpert, der wiederum einen straighten amerikanischen Cowboy verkörpert? Oh, heilige Vielfalt!
Dann begann die Performance. „The Stage is yours”, rief Eisa fröhlich. Mine? Jetzt sollten wir wirklich (!) in die Rolle des philippinischen Macho-Dancers schlüpfen und für Kund*Innen tanzen. Zwei Gruppen: Die einen waren die Dancer, die anderen die Barkunden. Licht aus, Discolicht an. Eisa dreht „Careless-Whisper“ auf Maximum Volume. Ein Stöhnen durchfuhr den Saal. Jetzt ist es aber wirklich camp, oder? Dazu kann man doch nicht tanzen! Egal! Es gibt eine klare Abfolge im Macho-Dancing: Erst steht man lässig, gelangweilt herum, dann geht man ein bisschen breitbeinig mit geheimisvollem Blick herum, macht die ersten Posen, dann fixiert man einen Kunden, posed nur für ihn, blickt ihm noch einmal in die Augen, dreht sich um und geht.
Meine „Kundin“ war ausgerechnet Claudia. Im Halbdunkel vernahm ich, wie Claudia völlig begeistert, im Schneidersitz aufgeregt auf und ab hüpfend und exaltiert mitklaschend, meiner Performance folgte. Da ich Claudia weder sexy noch begehrenswert fand und sie mich auch nicht bezahlt hatte, verspürte ich wenig Lust, mich vor ihr besonders erotisch zu gerieren. Also streichelte ich mir etwas gelangweilt über meine Flanke und meinen Kopf, rollte meinen Bauch etwas nach vorne und nach hinten und vollführte die einstudierten Posen: Smash, Pull and Push! Alles in super SlowMo.
„Now you have to fix your client“, rief Eisa. Also fixierte mein Blick Claudia, die mir fröhlich glucksend und aufmunternd zujubelte: „Ja, du machst das super!“ Ich zwinkerte ihr einmal bemüht zu und war froh, als die Performance endlich vorbei war. Jetzt vice-versa, kriss-cross, durfte ich den „Client“ von Claudia spielen. Ich wusste nicht, was schlimmer war. Claudias Darbietung war leider völlig unerotisch zappelig, so dass ich eher auf die professionellen Tänzerinnen, wie Mira, schielte, die offenbar alles ausblenden konnten und das ganze „Macho-Gehabe“ bewundernswert ästhetisch inkarnierten.
In der Abschlussrunde sagte ich, dass der Tanz in meiner Wahrnehmung durchaus etwas Erotisches hätte, gewissermaßen eine erotische Spannung voraussetzte, ich es aber in diesem eher künstlichen Setting hier im Mousonturm nicht hinbekäme, eine gewisse Barriere aus meinem Kopf zu bekommen, die mich an der Verkörperung gehindert hätte. Mira sagte, ihr hätte der genderübergreifende Ansatz gefallen, Hans erklärte sehr umständlich, der habe jeden Muskel seines Körpers gespürt, was eine tolle Erfahrung gewesen sei.
Als ich zurück ins Hotel fahre, lese ich über dem Eingang des Mousonturms in großer, bunter Leuchtschrift: „The Future will be confusing.“ Und das ist vielleicht das Schöne an der Jetztzeit, die systemische Dauerverwirrung – was hätte man sonst zu schreiben?
