Beruflich bin ich wieder viel unterwegs. Die Zeiten allerdings, in denen ich auf Dienstreisen durch nächtliche Arbeiterviertel streifte, um in surrealen Kunst-Performances und stylishen Geheimbars zu landen (Madrid) oder in schummrigen Queerclubs am Rive-Gauche zu blutigen Geburtsvideos mit butchigen Lesben zu schwofen (Le Pulp, Paris), sind vorbei. Ich suche Safe-Spaces! Das sind für mich solche, in denen ich ohne viel Tam-Tam mit Ende vierzig ein entspanntes Bierchen schlürfen und trotzdem ein unverfängliches Abenteuer erleben kann, welches spätestens um neun Uhr endet.
So habe ich das Theater für mich entdeckt. Genauer: das Mitmachtheater! Ich sage es, wie es ist: Laienhaft. Man muss gar nicht drumherumreden, von Schauspielkunst ist das weit entfernt. Trotzdem vollführen es die Teilnehmer mit größter Ernsthaftigkeit und Intensität. Darauf nehme ich natürlich Rücksicht.
Vor drei Wochen war ich ich im “Open-Space” Mitmachworkshop beim Berliner Ensemble im Gartenbau, heute Off-Theaterbühne im Galli-Theater im Frankfurter Gutleutviertel: Impro-Workshop! Unsere Spielführerin, äh, Theaterpädagogin, äh, nein, sagen wir Übungsanleiterin, ist ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit leicht russischem Akzent.
Ganz putzig, denke ich, etwas verpeilt, ständig nervös kichernd, ihre langen, blonden Haare von einer über die andere Schulter werfend – und in einer Phase der Selbstsuche. Dieses Kind soll jetzt etwa…? Egal! Hier bin ich. Ich mache Mitmachtheater! Ganz im Brechtschen Sinne. Ich nehme zugleich den Akteurs- und Beobacherstandpunkt ein – eine neue reflexive Erfahrung! Epistemologie Live-Experience!
Etwa acht Frauen sind dabei und vier Männer. Bernd, etwa siebzig, sieht aus wie der Zukunftsforscher Peter Wippermann (und ich könnte schwören, er ist es), outet sich direkt beim ersten Spiel. Rolf, will Schauspieler sein, ist aber eigentlich Pfleger für Hydrokulturen. “Ah, die Hydrokulturen in den ganzen Hochhäusern der Banken hier?”, frage ich interessiert. “Nein, in Dietzenbach.” Er träumt von einer großen Schauspielkarriere, hat sogar schon in Spielfilmen mitgespielt – und die könne man sogar im Internet sehen. “Ui, toll”, sage ich. Henk ist Stammgast der Truppe und hat einen starken Sprachfehler. Micha stellt sich mit dem Buchtitel seines Lebens vor: “Pleite und gefühlskalt.”
Die Frauen sind, laut Buchtitel ihres Lebens, allesamt in einer Phase der Selbst- oder Sinnsuche, meist beides. Unsere Moderatorin, ich nenne sie mal Annie, hüpft auf die Bühne. Kicher. Kicher. “Also ,hallo!” Kicher. Kicher… Irgendwann hat sie es, inmitten des Gekichers und Gegluckses, endlich geschafft, uns eine Übung zu erklären, zumindest so halb. Egal. Wir fangen einfach an. Dann folgt eine kleine Pause.
Ich bestelle an der Theke ein Bier und ernte ernste Blicke. Das hier ist Kunst! Selbstfindung! Das ist krass existenziell, da trinkt man Tee oder Wasser. “Man braucht einen klaren Geist”, kichert Annie und liest wirr die nächste Übung von ihrem Klemmbrett ab, „La-di-da“. Mister Hydrokultur steckt mir hinter vorgehaltener Hand, dass es unter Schauspielern ein ungeschriebenes Gesetz gibt, den Bühnen-Alkohol mit echtem Alkohol zu vertauschen. Mister Hydrokultur kennt alle Tricks.
Auf der kleinen Bühne spielen wir ein paar Szenen, die Annie anleitet: Geburtstagsparty, großes Promiraten (ich bin Woody Allen und bleibe trotz meines Hinweises: “Ich trage eine schwarze Hornbrille, mache jedes Jahr einen Film, lebe in einer großen Stadt und bin Neurotiker“ unerkannt). Dann spielen wir Filmszenen nach, die Annie mit ihrer unsichtbaren Fernbedienung Vor- und Zurückspulen, oder auf Stop oder Super Slow-Mo stellen kann. Annie lacht sich dabei halb schlapp. So also fühlt es sich an, wenn Frauen die Macht haben. Ich bin beeindruckt von der Schlagfertigkeit des Herrn mit der Gefühlskälte, Mister Hydrokultur indes überzeugt mich nicht, da würde selbst Bühnenalkohol nicht helfen.
Schließlich darf ich Maybrit Illner geben und eine Podiumsdiskussion zum Thema “Pro und Contra Kondome über den Kopf ziehen” moderieren. Ansonsten halte ich mich zurück, schaue zu und trinke verschämt mein Bier. Nun, denke ich, das Frankfurter Galli ist nicht das Berliner Ensemble und Annie nicht die Reinspergerin, den Brechtschen Verfremdungseffekt hat die Maybrit auf der Bühne auch völlig versemmelt und überhaupt sollte ich auch die Sache mit dem Mitmachtheater vielleicht nochmal grundlegend überdenken! Immerhin schaffe ich es mit beeindruckendem Improvisationstalent Mister Hydrokultur abzuwimmeln, der mich fragt, ob ich heute Abend noch was vorhätte… Achtung, Brechtscher-V-Effekt: Seufz!