(English Version below)
Der Psychoanalytiker Carl Jung wird einmal gefragt, ob er an Gott glaube, daraufhin sagt er wie aus der Pistole geschossen: “I know. I don’t believe.” Jung verstand Gott als den zentralen Archetyp des kollektiven Unbewussten: „Deus est circulus cuius centrum est ubique, cuis circumferentia vero nusquam. [God is a circle whose center is everywhere, but whose circumference is nowhere]“.
Selbst Albert Einstein war kein Atheist, sondern Agnostiker und als solcher nicht sonderlich religiös, aber er glaubte an Spinozas Konzept von etwas Göttlichem in allem: Deus sive Natura. Gott sei eine jenseits der Vorstellung in allem enthaltene Substanz. Dieser Glaube an „Etwas“ beschreiben die Niederländer als Ietsismus. In diesem, von FAZ-Autor Jürgen Taube etwas amüsiert als „Etwasistentum“ bezeichneten Ietsismus, glaubt man also an etwas Unbestimmtes.
Columns
Ute Hamelmanns humoristische Beobachtungen aus dem Alltag
Behagliches Unbehagen (My Macho-Dance-Experience)
Columns, Kolumnen
(English Version of this column ‚Comfortable Discomfort‘ soon below)
Wenn ich in Frankfurt bin, probiere ich gerne neue, exotische Sachen aus. In der Kleinmarkthalle bestellte ich mir gestern zum Beispiel die berühmte warme Fleischwurst der Metzgerei Schreiber mit Senf und Brötchen. „Unser Bestseller“, gluckste die ältere Dame mit Dauerwelle und Kittelschürze hinter der Theke, und klärte mich über den Gesundheitszustand der „alten Frau Schreiber auf. Weil: Sie sei ja nicht die alte Frau Schreiber! Weil: Die die alte Frau Schreiber könne das in ihrem Alter nicht mehr so gut…, aber nichts gegen die alte Frau Schreiber, eine prima Frau! Sie verstehen schon, was ich meine…“ Ich verstand die kleine schambehaftete Petzwurst hinter der Theke und verspeiste meine, nicht sonderlich anders als andere Fleischwürste schmeckende, Schreiber-Spezial-Fleischwurst mit einem Glas Weißwein (Sommercuvé 2024) beim Rollander auf der Markthallen-Terrasse.
Avant-garde on main stage
Columns, Kolumnen(English Version below)
Taylor Swift staunte nicht schlecht über die Performance ihrer Freundin Kate Perry und Doechii bei den diesjährigen VMAs. Zur Erinnerung, das sind die guten alten MTV Video-Music-Awards, die es tatsächlich noch gibt, in Deutschland aber in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sind. Man kann nicht einmal mehr die Videos der Webseite in Deutschland aufrufen. Neben einer gigantischen Show von „Mother Monster“ Lady Gaga und einem beeindruckenden Statement, was es für sie bedeutet, Künstlerin zu sein, kam schließlich die Performance von Perry und Doechii zu ihrem gemeinsamen Song: „I’m his, he’s mine“ und auch mir blieb die Spucke weg – holy moly!
Lady Gaga, Salvator Mundi
Columns, Kolumnen
(German Version below)
I wasn’t a big Lady Gaga fan. Her performances seemed too trendy, too flashy, and I was really put off by her plastic aesthetic—until I saw the movies House of Gucci and A Star Is Born. I thought she is amazing as an actress and started to get into her songs. Actually, for her artistic concept.
As an art historian, I’ve been wondering for quite some time where the new, the different, the ‚edgy‘ is. Where is avantgarde? Much of what catches my eye at art colleges has been there before, nice, ironic, and, well, okay. Performance rules: Half-naked, oiled-up humans are currently rolling around on the floor in the Schinkel Pavilion, while the Berlin art clique stands around bored, sipping Pinot Blanc. Oh, come on, folks, you’ve been seeing that in kinky clubs for years, and even I—living in a small village in the Westphalian countryside—have actually seen more outrageous and bizarre performances on queer and kinky stages.
Peg the Penisneid (Freud, I’m going to get you!)
Columns, Kolumnenenglish version below
Eines meiner Lieblingsbücher ist “Der Sandman” von E.T.A. Hoffmann. Ich las es als Schullektüre und es verschlang mich regelrecht: Schwarze Romantik, Mensch versus Maschine-Thematik, Wahnsinn, Erotik, Tod – faszinierend!
Ein paar Jahre später schmökerte ich in Sigmund Freuds Werk herum. Er schien gleichermaßen elektrisiert von dem hoffmannschen Werk, so dass er ihm in seiner Abhandlung “Das Unheimliche” ein paar Seiten widmete. Doch was musste ich dort lesen? Praktisch alles im Sandmann drehe sich ausschließlich um Kastrationsangst. Siggi du alte Säge, dachte ich grimmig, welch impertinente Vereinfachung! Nicht alles im Leben hat Kastrationsangst oder Penisneid als ultima ratio. Faust: Kastrationsangst, Effi Briest: Penisneid, Hamlet: Kastrationsangst, Madame Bovary: Penisneid – oder wie jetzt? Das ist doch unterkomplex!
The New Dorfler
Columns, Kolumnen
Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Davon verbrachte sie alle in unserem Dörfchen im Münsterland. Für sie ist unser Dorf der Nabel der Welt. Es gibt kein besseres Plätzchen zum Leben und Sterben. Rom, Dubai, London, Wien: Diese Städte fand sie am ersten Tag imposant, am zweiten hatte sie an allem was herum zu mäkeln, um am dritten Tag erleichtert festzustellen: Senden ist einfach das Allerbeste! Dabei ist es nicht mal besonders schön, unser Dorf.
Auch ich lebe inzwischen seit 49 Jahren hier und auch ich bin inzwischen der Überzeugung: Es gibt keinen besseren Ort zum Leben! Das mag am kognitiven Framing liegen, dass auch ich noch nie woanders gelebt habe, außer einem halben Jahr in Gütersloh Media-Worldwide.
Aber hey, der “New Yorker” liegt nur einen Tag später bei uns im Briefkasten als auf den Coffee-Tables im Greenwich Village. Ich überfliege jeden Morgen die New York Times, le Monde und den Guardian und arbeite in Mitten in Frankfurt in einem Großkonzern mit Menschen aus allen Nationen. Für die Met habe ich ein Opera-On-Demand-Abo – und wenn ich besonders eindrucksvolle Schauspieler*innen auf der Bühne sehen will, fahre ich eine halbe Stunde mit dem Auto nach Bochum oder Recklinghausen.
Der Business Traveller
Columns, KolumnenIn der DB Lounge in Frankfurt schlürfe ich einen kostenlosen Automatenkaffee. Vor mir liegt die Zeitschrift “Business Traveller”. Ich blättere lustlos in dem Heft. Der Business Traveller ist so eine Art eigene Klasse, a league of their own, denke ich. Klassen gibt es nicht mehr, sondern nur noch Sinus Milieus. Im Kartoffeldiagramm der Sinus Milieus sucht man ihn allerdings vergeblich, den Business Traveller. Noch! Denn er ist eine große, weltumspannende Kohorte. Es gibt 445 Millionen Business Travels pro Jahr, Tendenz steigend. Ein Boom-Markt mit fantastischen Wachstumsprognosen: 2.000 Milliarden Dollar Umsatz in 2028.
Brecht, Bühnenalkohol und Dietzenbacher Existenzialismus
Columns, KolumnenBeruflich bin ich wieder viel unterwegs. Die Zeiten allerdings, in denen ich auf Dienstreisen durch nächtliche Arbeiterviertel streifte, um in surrealen Kunst-Performances und stylishen Geheimbars zu landen (Madrid) oder in schummrigen Queerclubs am Rive-Gauche zu blutigen Geburtsvideos mit butchigen Lesben zu schwofen (Le Pulp, Paris), sind vorbei. Ich suche Safe-Spaces! Das sind für mich solche, in denen ich ohne viel Tam-Tam mit Ende vierzig ein entspanntes Bierchen schlürfen und trotzdem ein unverfängliches Abenteuer erleben kann, welches spätestens um neun Uhr endet.
KI-Faschokitsch und die gesellschaftliche Bedeutung der Avantgarde – ein Essay
ColumnsSeit ein paar Tagen diskutiere ich mit Freunden über die seltsame Optik von KI Bildern vor allem auf LinkedIn, denn: Sie gruseln mich! Sie haben eine seltsam bizarre, hyperrealistische Plastikoptik: Alles glänzt, die Menschen sind alle schön und schlank und gesund, ein paar mit Migrationshintergrund, aber auch die sind an die Plastikwelt angepasst und geglättet: Brave New World! Gottfried Helnwein wirkt dagegen wie ein Fauvist.

Wiener Notizen
Columns, KolumnenWien könnte eine schöne Stadt sein, liefe nicht die ganze Zeit meine Mutter neben mir her (wir sind wegen Erbangelegenheiten hier). Sie quasselt in einem fort. Ich wusste nicht, dass Menschen so viel reden können! Wir laufen die Bankgasse hinunter zum Burgtheater, dafür habe ich kurz vorm Abflug noch Tickets besorgt. In der Gasse interessiere ich mich für ein unbenanntes, aber hoch dekoriertes Lokal, an dem wir vorbei huschen. „Mensch, ist das sauber hier! Guck mal, diese Straße, wie machen die das nur? Warum ist das bei uns in Senden nicht so sauber?“ Alles, was meine Mutter sieht, reduziert sie blitzschnell auf ihre Welt. Und ihre Welt ist in erster Linie das westfälische Örtchen, in dem sie lebt – eigentlich in einziger Linie.
Urlaubskolumne
Columns, KolumnenIch arbeite ja beim Lotto. Das sagt man wirklich so: Beim Lotto! Warum weiß ich nicht, aber ich habe das inzwischen übernommen. Seit zwanzig Jahren arbeite ich da schon, beim Lotto. In ganz unterschiedlichen Funktionen. Jedenfalls wird man in so einem Job häufiger mit dem Gedanken konfrontiert: Was wäre, wenn du 90 Millionen Euro gewönnest.
Ja was eigentlich? Was wäre the place to be, the place to die?
Grumpy Family
Columns, KolumnenIch mache mir nichts vor, ich bin Mitte vierzig und werde grumpy. Es führt auch kein Weg daran vorbei. Bei mir in der Familie hatten wir viele grumpy people. Eigentlich waren wir Grumpy-Family. Meine beiden Tanten, Sissi und Toni, lebten zusammen, nachdem ihre Männer im Krieg gefallen waren, und sie waren ein Ausbund an Grumpiness. Grumpy in olympischem Ausmaß! Ich glaube, ihre Gesichtsmuskeln waren irgendwann so konditioniert, sie hätten nicht mal mehr lächeln können, selbst wenn sie gewollt hätten. Sie zupften den ganzen Tag Unkraut in ihrem riesigen Gemüsegarten und schimpften dabei leise murmelnd vor sich hin. Mein Opa väterlicherseits war auch sehr grumpy. Er saß immer auf dem roten Sofa in der Küche, guckte durch seine dicke schwarze Brille grumpy in die Welt und rauchte dabei Zigarre. An mehr erinnere ich mich nicht, wirklich! Oder er saß an der Theke in der Hansa Stube, da war er vielleicht fröhlich, aber das weiß ich nicht.
Ich erfuhr irgendwann später, dass er beim Finanzamt gearbeitet hat, obwohl er eine Karriere als Unternehmenschef oder Organist hätte machen können, aber dann gäbe es mich wohl nicht. Tja, man kann nicht alles haben. Seine Frau, meine Oma Grete, auch ein ziemlich grumpiger Fall, außer wenn sie klassische Musik hörte, da summte sie fröhlich. Und der Onkel, Bruder meines Vaters, auch. Unsere Familienfeste, hei, da war was los, ich sage es euch! Neulich erfuhr ich, dass der besagte Onkel früher mal eine sehr intensive Beziehung zu einem Jungen hatte und in der Zeit sehr glücklich war. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, der glückliche Onkel, einfach weil es so abwegig war. Man, sieht, Grumpiness ist in unserer Familie genetisch bedingt und damit auch für mich unausweichlich.
Trotzdem arbeite ich natürlich dagegen an! Ich stelle mich morgens vor den Spiegel und mache zum Beispiel Lächeln-Übungen. Embodiment heißt das. Das habe ich neulich in einem TED-Talk gehört, das hilft: Mache eine Power-Pose und du wirst zur Power-Frau! Stell dich breitbeinig hin oder setz dich breitbeinig hin, nimm die Arme hoch, zeige deine Mukkis, mache ein breites Kreuz und du wirst zum Gewinnertyp! Also mache ich ganz viele Power-Posen und Lächeln-Posen und Arm-Hoch-Posten vor dem Spiegel und fühl mich super – zumindest für die nächste Stunde.
Gestern hat unser Jüngster seine Kumpels mit nach Hause gebracht. Theo und Ibo, Ibrahim. Ibo ist mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet. Da war er vier. Er hat sechs Geschwister, sein leiblicher Vater ist im Krieg gefallen. Nun ist dieses Kind so dermaßen freundlich und fröhlich, dass es mich regelrecht umgehauen hat! Wirklich. Ich kenne kein freundlicheres Kind. Auch die Mutter von Theo ist ganz begeistert. Mir war schon in der Schule aufgefallen, dass er mich sofort wahrnahm, wenn ich ein vergessenes Pausebrot oder einen Turnbeutel anschleppte und mir immer sofort sagen konnte, wo sich mein Sohn befand. Ich liebe aufmerksame und umsichtige Menschen!
Tja, was soll ich sagen, die Fröhlichkeit und Freundlichkeit dieses Kindes ist direkt mimikrymäßig auf mich übergeschwappt. Und ich übe mich jetzt in Ibo-Freundlichkeit. Das ist ja das gute an der Biologie, man kann den Genen ein Schnippchen schlagen, nämlich durch Anpassung. Man kann sich im Grunde prima selber evolutionieren. Mache ich jetzt. Jeden Tag ein bisschen. Ibo-Co-Evolution. Survival of the friendliest. Grumpiness go home!
Über die Ästhetik des Andersseins
Columns, Kolumnen(eine Zugkolumne oder Lob der Streckensperrung)
Neulich sah ich diesen berühmten Filmausschnitt über lebensmüde Pinguine. Er heißt “Nihilist Penguin” und ist aus dem Film “Begegnungen am Ende der Welt” von Werner Herzog. Für diese Dokumentation ist der Filmemacher eigens mit seinem Kameramann in die Antarktis gereist und beobachtet dort nun eine riesige Pinguinkolonie. Tausende von Pinguinen, so weit das Auge reicht, überall auf der weißen Schneelandschaft kleine schwarze Punkte. Als er einen Pinguinforscher interviewt, sagt dieser, es gäbe immer ein paar Pinguine, die einfach ausscheren. Die nicht mit der Masse schwimmen. Alle anderen tausend rennen zum Meer. Diese nicht. Die rennen genau in die andere Richtung. Ins Landesinnere. Die widersetzen sich dem natürlichen Trieb, zu schwimmen, im Meer Nahrung zu jagen, sich zu paaren, eine Familie zu gründen, einen Bausparvertrag abzuschließen und so weiter – kennt man ja. Die wandern lieber aus und flüchten sich in die Leere der weiten fischlosen Schneelandschaft.
Irgendwas in denen sagt: Ich mach da nicht mit! Ich steig aus. Fuck you Pinguin-Konvention. Vielleicht sind das Vegetarier, oder Veganer, Aquaphobiker, oder doch von einer unstillbaren Todessehnsucht getriebene Thanatos-Pinguine, oder ist es etwas ganz anderes? Jedenfalls ist da nix zu machen mit diesen ollen Querköppen. Der Pinguinforscher sagt, dass man die immer wieder in die Kolonie zurücksetzen könne oder einfach ins Wasser schmeißen, die gingen trotzdem wieder ins Innere des Kontinents. Als sei das so eine Art innerer Zwang. Und man solle sich denen bloß nicht in den Weg stellen! Ich finde das toll. In ihrer unbeirrbaren Sturheit könnten das glatt westfälische Pinguine sein. Und er sieht wirklich wahnsinnig romantisch aus, der einsame Pinguin, wie ein Eremit in der Wüste.
